Um es vorweg zu nehmen: Hector passte leider nicht in die Blockhütte…
Die Anreise zur traditionellen jährlichen Wanderung erfolgt statt dessen im kleinen Auto. Während ich zunächst zähen Verkehr überwinde ahne ich noch nicht, dass Christine mal wieder eine “10 von 10 Gämsen-Bewertungspunkten”-Wanderung herausgesucht hat.
Die Anfahrt wird erst ab dem Landecker Tunnel berichtenswert, aber dann wird es gleich richtig schön: die Landschaft wird zunehmend dramatisch, die Schlucht des Inn wird immer steiler und die Berge abweisender. Zwischen Scuol und Zernez lauern zudem ungeahnte Gefahren: zwischen den Serpentinen der Bundesstraße liegt ein Schießübungsplatz. Zielscheiben sind unterhalb der Fahrbahn an der Felswand angebracht und über eine Distanz von 50 – 500m wird geschossen. Scharf, wie ich annehme. Als ich an der Baustellenampel stehe und die Schüsse höre wird mir ein wenig mulmig und ich bin froh, als ich drei Kurven weiter diesen Bereich hinter mir lasse.
Die weitere Streckenführung ist wunderschön, wild und kurvig. Leider ist das nicht jedermanns Sache und erst als ich zwei bergauf-bremsende Kleinwagen hinter mir lasse, kann ich den Kurvenrhythmus genießen. In Zernez treffe ich Christine und wir lassen den Abend mit guter Pizza und einem kleinen feinen Glas Chianti ausklingen.
Samstag morgen fällt es sogar Frühstücksmuffeln wie mir schwer, dem typisch schweizerischen Angebot an Nussbrot, Bircher Müsli, Bündner Fleisch, frischem Obst, Bergkäse und weiteren Köstlichkeiten den Rücken zuzuwenden (natürlich erst nach ausgiebiger Kostprobe), um den Postbus um 9:30 Richtung Ofenpass zu erwischen. Der Bus ist voller Mountainbiker und wir sind froh, noch einen Platz zu ergattern. 14,- CHF und 4 Stationen später sind wir die einzigen Wanderer, die mitten im Bergschluchtigen Nichts an einem kleinen Parkplatz aussteigen.
Der Einstieg führt auf einem kleinen Pfad sanft bergab und es ist unglaublich grün. Leuchtend grünes Moos und Farne bedecken den weichen Boden, Sonnenstrahlen fallen tupfenweise durch grün benadelte Lärchen und es wirkt wie ein märchenhafter Zauberwald (wie passend! Anm. d. Red.).
Nach kurzer Zeit blicken wir auf den grün schimmernden Fluss am Fuß der Schlucht, den eine malerische Holzbrücke überspannt. Ab hier endet der sanfte Auftakt der Tour: die nächsten Stunden geht es kräftig bergauf und bergauf und bergauf. Gute 1000 Höhenmeter wollen überwunden werden, zunächst durch lichter werdende Lärchenwälder, dann durch vereinzelte Bäumchen und schließlich bis zu dem Punkt, an dem nur noch niedrigere Wuchsformen (Gras, Blumen und sonstige Botanik) den Berg überziehen.
Dort, wo die Bäume längst nicht mehr wachsen, ist das Reich der Murmeltiere. Zunächst fallen die Erdlöcher auf, die als Tor zur Stollenwelt ihrer Behausungen überall zu sehen sind. Kurz darauf sehen wir die ersten possierlichen Tierchen, deren weithin hörbare Pfiffe schon seit einiger Zeit die Luft füllen. Da sich Murmeltiere nur zu 10% an der Oberfläche aufhalten und zu 90% unter der Erde leben, haben wir insgesamt 100 Exemplare direkt und indirekt gesehen.
Zunächst eine Kleinfamilie mit balgenden Jungtieren, während Papa (oder Mama?) auf den Hinterbeinen stehend immer wieder einzelne Pfiffe ausstößt, wobei der ganze Murmeltierkörper leicht erbebt. Später treffen wir weitere Tiere, eins davon so nah, dass wir in aller Ruhe die reichhaltigen Fettschichten unter dem dichten Fell bewundern können. Die Tiere sind einfach clever: sie wissen genau, dass das Gebiet seit über 100 Jahren Naturschutzgebiet ist und der Mensch ihnen hier nicht gefährlich wird. Entsprechend gelassen trauen sie sich auf 10m heran und grasen systematisch die Blumenwiese ab oder werfen ihr Hinterteil für Touristenfotos stolz in Pose. Hätten wir nicht ein klitzekleines Problem mit fehlenden Handyladekabeln und Kamera-zu-Hause gehabt, würde an dieser Stelle ein Murmeltier-PinUp-Kalender stehen.
Inmitten blumiger Murmeltier-Idylle machen wir Rast mit Weitblick. Ein großer Stein zwischen Bergblumen und Wanderpfad dient als Picknickplatz für Proviant und uns. Der Hang ist so steil, dass man zwar weithin auf die umliegenden Bergketten sehen, den gerade erklommenen Weg jedoch nur wenige Meter weit einsehen kann – der Rest fällt dem Anstiegs-Winkel und der Erdkrümmung zum Opfer. Vielleicht liegt es daran, dass wir heute weniger als einer Handvoll Wanderer begegnen.
Etwas später erreichen wir den höchsten Punkt der Tour = den Fuorcla Murter und haben 360° Rundum-Blick auf 2.545m. Ab jetzt geht es bergab, Ziel ist die Chamanna Cluozza: erbaut 1910 und seither einzige bewirtschaftete Hütte im Schweizer Ntionalpark. Erst später wird uns bewusst werden, dass der Abstieg vom Murter-Sattel auf Höhe der Hütte (1.882m) mehr als das naiv geschätzte Dreiviertelstündchen dauern wird.
Auf der anderen Seite des Sattels ist das Tal noch ein wenig rauer, noch enger und angesichts der Schneereste und des Blockgletschers wohl auch kälter. Obwohl von hier aus kaum Wasser im Kiesbett des Flusses auszumachen ist, füllt sein Rauschen die Luft bis nach oben. Die Sonne kämpft schon den ganzen Tag (erfolgreich) gegen die heranschiebenden Wolken, was gut in diese dramatische Landschaft passt.
Auch auf dieser Seite führt der Weg steil bergab, die Sicht reicht jeweils nur bis zur nächsten Biegung und der Wald, in den wir bald eintreten, tut ein übriges: die Hütte sehen wir erst, als wir schon auf 50m herangekommen sind. Erfreut und erschöpft lassen wir uns auf die Holzbänke fallen und genießen die Ankunft.
Die Hütte bietet neben Aussicht und Terrasse ein Toi-Häuschen, das rund 20m unterhalb des Haupthauses liegt, sowie ein Waschhaus mit Wasserhahn und Ablaufrinne. Das Wasser ist kalt, aber wohlschmeckend und trinkbar und das leibliche Wohl bleibt hier grundsätzlich nicht auf der Strecke. Obwohl nur alle paar Wochen per Helikopter eine Versorgungsladung vorbei kommt, ist die Verpflegung reichhaltig und lecker.
Nachmittag und Abend sind ganz der Erholung gewidmet: Beine ausstrecken auf Bank + Schaffell, Betrachtung der Landschaft und der anderen Wanderer sowie ein mehrgängiges rustikales Abendessen sind Beschäftigung genug.
Nach Einbruch der Dämmerung unterhalten wir uns angeregt mit illustren Wanderern aus aller Welt (Schweizer, Nichtschweizer, junge und alte) und tänzeln kurz vor der Hüttenruhe noch über die Slackline, die sich neben der Terrasse über 10m Länge spannt. Um 22.00h ist Zapfenstreich und die nächsten Stunden versuche ich mehr oder weniger erfolgreich, aus dem Seidenschlafsack, 2 Wolldecken und einer von 30 belegten Matratzen des Schlaflagers ein kuscheliges Nest zu bauen. Es hätte vermutlich geholfen, sich den neu gekauften Schlafsack und seine Funktionsweise zuvor bei Tageslicht anzusehen, aber auch so ist die Nacht trotz voller Belegung angenehm ruhig und erholsam.
Am nächsten Morge ist bereits um viertel vor sechs der halbe Schlafsaal leer und auch ich stolpere in den kühlen Morgen Richtung „Badezimmer“. Der Blick von der Plattform vor dem Toilettenhäusel ist umwerfend: gold schimmern die oberen Spitzen der schroffen Dreitausender in der Sonne, während der Rest der Schlucht in allen denkbaren Grauschattierungen noch zu schlafen scheint. Das Thermometer zeigt 6°C an und ich will gar nicht wissen, wie kalt es wird, wenn nicht gerade ein wohlige Hitzewelle den Hochsommer in ganz Europa krönt.
Um halb acht tauschen wir die Hüttenschuhe gegen unsere Wanderstiefel und starten den Rückweg nach Zernez. Wir erwarten einen entspannten Abstieg, haben doch alle Schweizer (die am Vortag in entgegengesetzter Richtung aus Zernez zur Hütte kamen) berichtet, dass es hier nicht sehr steil sei. Wir lernen, dass die Definition „steil“ bei Schweizern eine andere ist als die uns vertraute.
Nach kurzem Abstieg zum Fluss am Boden der Schlucht wechseln wir über zur gegenüberliegenden Bergseite. Die Nadelwälder wirken morgens im Schatten noch recht gräulich, so dass es umso schwieriger ist, Steinböcke zu erspähen. Zum Glück begegnet uns später noch eine Gämse, die gefühlte drei Meter vor uns den Weg kreuzt; so haben wir wenigstens 2 der Big Five gesehen: Murmeltiere und Gämse. Erstaunlicherweise wirkt letztere auf dem Foto weiter entfernt, aber das liegt bestimmt an einer eigenwilligen Software-Einstellung der Handy-Kamera…
Der Weg führt uns zunächst eine gute Stunde bergauf, bevor sich die Landschaft langsam wandelt und die Richtung immer weiter talauswärts und bergab einschlägt. Inzwischen erscheint die Sackgassenseite der Schlucht ewig weit weg und auch wenn wir noch mitten im Wald sind, nähern wir uns mit jedem Schritt Zernez und der Zivilisation. Sogar Handy-Empfang gibt es inzwischen.
Stunden oder Minuten später läuft der Weg zwischen Wiesen und Feldern aus, wir überqueren ein letztes Mal den Fluss und stehen an der Straße am Ortseingang von Zernez. Es ist irgendwie seltsam, auf einmal wieder in das normale Leben einzutreten. Die ganze Rückfahrt bis München und noch weit darüber hinaus hält die Begeisterung an: die tolle Tour, einmalige Landschaft, die Athmosphäre inmitten von Wanderern auf einer abgelegenen Hütte, die Gespräche, die Bilder, die Fülle der Eindrücke. Wow.
Oh ja, es war eine großartige Tour! Die Schweizer fanden meine Wanderfrequenz irgendwie lustig, einer rief: “Los, macht ein Foto: Britta wandert nur einmal im Jahr und das ist jetzt!” Und dort, wo wir waren, schreibt man Gämse mit “ä” wie “ae” wie “Gamsbart” (glaube ich zumindest…) Aber inzwischen bin ich ja voll im Flachland, im “hohlen Land” = Holland sogar, der totale Kontrast also. LG aus dem Norden nach noch-nördlicher 😉
Dein lebendiger Bericht und die fröhlichen Fotos von euch Beiden sind die reinste Dauerwerbesendung für Lebensfreude und gute Laune. Bei mir hat sie gewirkt. Als ich euer Chianti Foto sah, wäre ich am liebsten mit auf dem Bild gewesen. Meine Güte, habt ihr es euch gut gehen lassen. Klasse.
PS: Das ist übrigens das erste Murmeltierfoto, das ich sehe. Wer hätte gedacht, dass man so nah an sie herankommt, an die kleinen pfeifenden Biester.
PPS: Und Gämse hätte ich aus Überzeugung falsch geschrieben. Mit “ä” also. Hmpff…